
Animismus oder Geisterglaube ist in Thailand seit den vor-buddhistischen Zeiten bis heute weit verbreitet. Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Geistern zu berücksichtigen. Damit ihre Zahl nicht noch weiter steigt, müssen alle Verstorbenen eingeäschert und nicht begraben werden. Beim Einäschern verlässt die Seele den Körper und wartet auf ihre nächste Reinkarnation. Bei der Beerdigung dagegen bleibt die Seele als Geist auf der Erde und wird danach trachten, jedermann zu schädigen.
Thai haben vor Geistern - den phi - wirklich Angst. Man macht darüber auch keine Witze, andernfalls könnten sie kommen! Geister sind überall in Thailand. Am auffälligsten sind die Geisterhäuser san phra phum, die man praktisch in oder an jedem Haus findet. Je größer das Haus, um so größer ist auch das Geisterhaus. Für die Herstellung der Geisterhäuser haben sich eigene kleine Fabriken etabliert.
Die Installation eines Geisterhauses ist deshalb Pflicht, weil beim Bau des Hauses die hier lebenden Geister verjagt wurden. Das Geisterhaus ist also ein als Ersatz angebotenes Heim für sie und soll sie besänftigen.
Die darin lebenden Geister werden täglich vom Hauseigentümer mit Speisen versorgt. Außerdem ist es üblich, ihnen kleine Figuren zu opfern, die Bedienstete, Tänzer, Elefanten und Autos repräsentieren und dem Geist ein angenehmes Leben ermöglichen.
Im berühmten Wat in der Nähe der Sukhumvit 101 in Bangkok wohnt der schreckliche Geist phi phra kanong oder mae naak, ein Geist, den die Leute schon seit langer Zeit fürchten. Seine Geschichte geht auf das 19. Jahrhundert zurück, als Bangkok noch das "Venedig des fernen Ostens" genannt wurde.
In dieser Zeit heiratete eine Frau namens mae naak einen Soldaten. Einige Zeit später, als mae naak bereits schwanger war, musste ihr Gatte in die Ferne reisen. Während seiner Abwesenheit verstarb sie, immer noch das Ungeborene tragend. Nach altem Thai-Glauben wird aus einer verstorbenen schwangeren Frau ein besonders starker Geist. Sie begann, die Nachbarschaft zu ängstigen, indem sie einige Menschen tötete und deren Blut trank. So erreichte sie, dass jedermann Angst vor ihr hatte. Aber sie liebte ihren Gatten nach wie vor sehr innig.
Der Ehemann wusste nichts von den Vorfällen, und als er zurückkehrte, erwartete sie ihn tatsächlich. Die Leute warnten ihn zwar, dass seine Frau verstorben sei und er nun mit einem Geist lebte, aber er glaubte ihnen nicht.
Eines Tages, als mae naak gerade das Essen richtete und ihr Mann unterdessen ein Bad nahm, fiel ihr eine Zitrone aus der Hand. Weil das Haus auf Thai-Art auf Pfählen gebaut war, fiel die Zitrone ungefähr zwei Meter tiefer als der häusliche Fußboden. Um sie aufzuheben machte mae naak, der Geist, sich deshalb einen sehr langen Arm. Das aber sah ihr Mann und realisierte endlich die Tatsache, dass er mit einem Geist zusammen lebte. Deshalb bereitete er sich auf seine Flucht vor,
Mit Hilfe eines Mönches gelang es, den Geist von mae naak in einer Flasche zu fangen und diese im Fluss wegtreiben zu lassen. Der Mönch hatte die Flasche in ein Tuch gepackt, dessen Aufschrift in Pali dem Geist verbot, die Flasche zu verlassen. Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende: zwei Fischer fanden die Flasche, öffneten sie und befreiten damit den Geist.
Inzwischen hatte der Ehemann sich eine neue Frau gesucht. Der Geist von mae naak jedoch machte sich daran, sie zu finden, und tötete sie.
Erst als mae naak prophezeit wurde, dass sie in einem späteren Leben wieder mit ihrem Ehemann zusammen sein würde, beendete sie das Morden.
Thai glauben auch heute noch an diese Geschichte. Sie sprechen jedoch nicht über Geister, weil sie Angst haben, von ihnen sonst des Nachts im Traum heimgesucht zu werden.
Im besagten Wat in Bangkok ist das Grab der mae naak. Im Inneren gibt es eine mit Blattgold geschmückte Statue von ihr. Heutzutage ist der Tempel sehr populär und gut besucht, weil man sicher ist, dass der Geist von mae naak beim Lotteriespiel hilft, indem er die besten Zahlen verrät. Entsprechend überladen ist auch sein Gabentisch mit Spenden von Blumen, Spielzeug, und Kinderkleidung.
Mae heißt "Mutter", aber weil die Geschichte jetzt schon aus dem vorletzten Jahrhundert stammt, geht man dazu über, sie statt dessen als ya naak zu bezeichnen, d. h. "Großmutter".